»Wer eher ängstlich ist, profitiert besonders von der Natur«

Viele Studien belegen, dass der Kontakt mit der Natur sich positiv auf die Psyche auswirkt. Im Interview erklärt der Psychiater Andreas Meyer-Lindenberg, warum das so ist und was daraus für Stadtplaner und Stadtbewohner folgt.

Foto: Sabien Rovers

Kaum jemand weiß mehr über den Einfluss der Natur auf die menschliche Psyche und das Wohlbefinden als Andreas Meyer-Lindenberg, der seit 15 Jahren auf diesem Gebiet forscht. Meyer-Lindenberg ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Mannheim, hält sich momentan aber für einen Studienaufenthalt an der Stanford Universität in Kalifornien auf, wo er im Rahmen des »Natural Capital Projects« untersucht, wie man die Heilkraft der Natur finanziell quantifizieren kann.

SZ-Magazin: Immer mehr Menschen leben in Städten. Ist das gesund?
Andreas Meyer-Lindenberg:
Gerade weil immer mehr Menschen in Städten leben, ist es erstaunlich, dass man so deutlich nachweisen kann, welche Nachteile das Stadtleben für das Wohlbefinden hat.

Nämlich?
Stadtbewohner haben ein 30 Prozent erhöhtes Risiko, an Depression zu erkranken, und das Schizophrenie-Risiko ist bei Menschen, die in der Stadt geboren werden, drei Mal so groß wie auf dem Land. Das ist auch deshalb erstaunlich, weil Städte eigentlich tendenziell eher gut sind für die körperliche Gesundheit, unter anderem weil Städter auch im internationalen Vergleich reicher sind und besseren Zugang zu medizinischer Versorgung haben. Aber Städte haben eben auch eine dunkle Seite, das sehen wir am erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen. Dagegen müssen wir etwas tun.

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Kann ich als Stadtbewohner auch selbst etwas tun?
Ja, sogar relativ leicht. Die meisten Theorien über den positiven Einfluss von Natur gehen davon aus, dass man draussen im Grünen sein muss. Wir konnten aber zeigen, dass schon der visuelle Effekt positiv wirkt: Wer Grünflächen sieht, dem geht es bereits besser. Der Effekt ist durchaus ausgeprägt. Wenn man den Unterschied misst zwischen keinerlei Naturkontakt oder 100 Prozent, dann ist der positive Effekt der Natur auf das Wohlbefinden zum Beispiel größer als mit seinen Kindern zu spielen oder mit seinem Partner abends zu essen. Nur wenn wir gerade Sex haben, geht es uns noch besser.

Ist der Effekt bei allen Personen etwa gleich oder gibt es da große Unterschiede?
Leute, die von der Persönlichkeit her eher ängstlich sind, profitieren besonders von Natur. Besonders ausgeprägt ist der Effekt bei Menschen, die Schwierigkeiten haben, ihre Emotionen zu regulieren. Ein zentraler Signalgeber für negative Emotionen ist der Mandelkern im Gehirn, der für die emotionale Bewertung von Situationen zuständig ist. Im Experiment rufen wir negative Emotionen hervor, indem wir Menschen ärgerliche und traurige Gesichter zeigen. Da aktiviert sich der Mandelkern, dann regulieren präfrontale Hirnregionen ihn wieder runter. Das ist ziemlich fest verdrahtet. Menschen, bei denen diese Regulation nicht gut funktioniert, haben auch ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen. Diese Risikogruppe trifft man besonders in der Innenstadt. Und da schließt sich der Kreis, weil es da am wenigsten Bäume gibt.

Woody Allens Stadtneurotiker muss also dringend ins Grüne – aber wie lange? Müssen es zwei Stunden Waldbaden sein oder reichen 20 Minuten Stadtpark am Tag?
Die Forschung hat wie gesagt klar gezeigt, dass es schon einen positiven Effekt hat, Natur überhaupt nur zu sehen. Wenn Sie im Krankenhaus liegen und aus dem Fenster auf einen Baum gucken, haben Sie eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, schneller zu gesunden als mit einem Blick auf eine Ziegelmauer. Es hilft auch, bewusster darauf zu achten, also dass man tatsächlich aus dem Fenster schaut und sich ein Stück weit über den Baum freut.

Viele Menschen können sich nicht aussuchen, wo sie wohnen und arbeiten. Gibt es die Möglichkeit, sich die Natur ins Büro oder Wohnzimmer zu holen?
Absolut. Beispielsweise mit Pflanzen. Es gibt sogar Daten, die zeigen, dass Bildschirme mit Naturszenen besser fürs Denkvermögen sind als eine Stadtansicht. Natur ist aber nicht der einzige Faktor. Auch Bewegung im Alltag hat einen sehr positiven Effekt, und die beiden Dinge kann man ja miteinander verbinden, indem man bewusst dort hingeht, wo ein paar Bäume stehen. Wir haben zum Beispiel ein Experiment gemacht, wo wir die Leute entweder in die Stadt geschickt haben oder einen Waldspaziergang machen ließen. Grünflächen beruhigen das sogenannte Ruminieren, dieses negative Grübeln, das sich bei ganz vielen Menschen ständig im Kopf abspielt. Das ist ein ganz großer Risikofaktor für Depressionen, den die Natur aber blockiert.

Der Amerikaner Richard Louv hat mit seinem Bestseller Das letzte Kind im Wald? den Begriff des Natur-Defizit-Syndroms geprägt. Sehen Sie die negativen Auswirkungen des Stadtlebens auch auf Kinder?
Ja. Wir sehen den Effekt von Grünflächen auf das Wohlbefinden bei Kindern wie bei Erwachsenen. Es gibt eine ganze Reihe sehr solider Studien, die zeigen, dass das Krankheitsrisiko stark damit zu tun hat, wieviel Natur ein Kind um sich herum vorfindet. Der deutlichste Befund ist die Verdreifachung des Schizophrenie-Risikos. Wir können ganz eindeutig zeigen, dass Grün für Kinder sehr wichtig ist, gerade auch für Kinder mit psychischen Problemen. Es wirkt sich positiv aus, wenn sie im Park oder in der Natur sein können.

»Ein Teil des Risiko, den Städte fürs Wohlbefinden darstellen, kommt dadurch zustande, dass man dort mit vielen Leuten zusammenkommt, die einen nicht unbedingt kennen oder mögen«

Eine Studie der Hasselt Universität in Belgien mit mehr als 600 Kindern hat gar gezeigt, dass eine grüne Umgebung sogar den Intelligenzquotient von Kindern zwischen 10 und 15 Jahren im Durchschnitt um 2,6 Punkte hebt.
Natur zu erleben hat einen Einfluss auf die die Intelligenz, aber sicherlich vor allem auf das Wohlbefinden. Das wird natürlich ein Riesenproblem im Rahmen des Klimawandels, weil sich die Städte ja massiv verdichten werden. Und da ist die Frage, wie man überhaupt noch Natur-Zugang ermöglichen kann, wenn die Menschen in zig Dutzend stöckigen Hochhäusern wohnen.

Ich erreiche Sie gerade in Stanford. Woran genau forschen Sie da?
Beim »Natural Capital Project« geht es darum, den Wert der Natur zu beziffern und Werkzeuge zu entwickeln, die es Entscheidungsträgern ermöglichen, diese Aspekte dann auch bei konkreten Projekten zu berücksichtigen.

Glauben Sie, dass sich der Wert der Natur tatsächlich quantifizieren lässt?
Ja, klar. Man kann beispielsweise das Krankheitsrisiko, etwa für Depression oder Schizophrenie, mit einem Kostenfaktor versehen. Wenn dieses Risiko aufgrund von viel Grün irgendwo geringer ist, sind dort natürlich auch die entsprechenden Kosten geringer.

Was sollten Stadtplaner über die Heilkräfte der Natur wissen?
Genau diese Frage ist der Grund, warum wir seit Jahren untersuchen: Was gibt es für Resilienzfaktoren in der Stadt? Einer ist das städtische Grün. Ein zweiter ist die Bewegung. Städte sind in sehr unterschiedlichem Ausmaß bewegungsfreundlich. Denken Sie an Los Angeles, wo alle mit dem Auto fahren, und dann beispielsweise an Heidelberg, wo man fast alles zu Fuß oder mit dem Rad erledigen kann. Beides, also Natur und Bewegung, können und müssen Stadtplaner berücksichtigen. Auf die Weise lassen sich dann auch konkrete Einsparungen in Euro oder Dollar errechnen.

Wie sieht das konkret aus?
Wir zeichnen in Ihre Stadtkarte eine Bevölkerungs-Karte und dann können Stadtplaner einen Parcours einzeichnen, den sie neu gestalten wollen. Dann zeigt das Modell an: Wie verändert sich dadurch das Wohlbefinden, wie das Krankheitsrisiko der Leute in dieser Stadt? Also sehr, sehr konkret. Wir haben das Werkzeug geschaffen, aber anwenden müssen es natürlich die Stadtplaner. Wir werden das an einer Reihe von Gegenden evaluieren: rund um Mannheim, Paris, verschiedene Städte in China und hier in San Francisco. Ein weiteres Beispiel ist eine Navigations-App, die wir für die Stadt Mannheim entwickelt haben. Da gibt man ein Ziel ein und bekommt durch die App angezeigt, bei welcher Routenvariante man möglichst viel Natur mitnimmt.

Das ist doch gut, oder?
Ein Teil des Risikos, den Städte fürs Wohlbefinden darstellen, kommt dadurch zustande, dass man dort mit vielen Leuten zusammenkommt, die einen nicht unbedingt kennen oder mögen. Verglichen mit dem Landleben gibt es einen wirklich krassen, qualitativen Unterschied in dem, was wir das supportive soziale Netz nennen. Damit ist die Familie gemeint, aber auch Leute, die Sie beim Namen kennen und Ihnen einen Gefallen tun würden, zum Beispiel ein Paket annehmen. Wenn Sie auf dem Land fragen, kennen Sie Ihren Nachbarn und würden Sie ihn um einen Gefallen bitten, dann sagen vier von fünf Leuten Ja. In der Stadt sagen auf dieselbe Frage vier von fünf Leuten Nein. Das trägt dazu bei, dass in der Stadt ein großer Teil der sozialen Interaktionen neutral bis negativ ist, auf dem Land hingegen neutral bis positiv. Das müssen Stadtplaner adressieren.

Wie?
Beispielsweise indem sie soziale Räume in der Stadt schaffen, in denen angstfreie, positive Begegnungen möglich sind. Ein Beispiel ist ein Platz, der breit genug ist, Blumenkübel und Stühle hinzustellen, oder Grünprojekte, bei denen leere urbane Flächen, die Angst auslösen, mit Bäumen und Sträuchern begrünt werden.

Weiß man eigentlich, warum wir uns in einer solchen Umgebung so wohl fühlen?
Eine der Theorien darüber ist die sogenannte Biophilie-Hypothese. Wir kommen ja eigentlich aus Afrika. Zur Zeit des Homo Sapiens war das eine Steppenlandschaft. Da suchte man dann Schutz vor Raubtieren und sowas in kleinen Baumgruppen. Das ist genau die Art Natur, die Leute bis heute am attraktivsten finden.

Die Weltgesundheitsorganisation hat gemessen, dass der moderne Mensch 22 Stunden am Tag in geschlossenen Räumen verbringt. Das ist sozusagen nicht artgerechte Haltung.
Ja, von der Evolution her wurden wir für etwas ganz anderes ausgerichtet als für unsere jetzige Lebensart. Wer in Singapur oder Abu Dhabi lebt, kommt kaum noch mit Natur in Berührung, so heiß und feucht ist es da draußen. Die Klimafolgen-Modelle schätzen die Auswirkungen des Klimawandels auf die körperliche Gesundheit ganz gut ein, aber sagen praktisch nichts über die Psyche. Wenn man weiß, wie drastisch der Effekt auf die Psyche ist, müssen wir das auch in die Klimafolgen einbeziehen. Die psychischen Effekte des Klimawandels müssen dann auch beispielsweise beim Preis von einer Tonne CO2 eingepreist und handlungsrelevant werden.

Ich würde gern nochmal auf die Frage zurückkommen, wie man den Menschen Zugang zur Natur ermöglichen kann. In Kanada verschreiben Ärzte zum Beispiel Jahrespässe für Nationalparks statt Blutdruckmedikamente, oder es gibt Projekte wie das EcoHappiness Project, mit dem Ziel, Kinder an die Natur heranzuführen. Was halten Sie davon?
Tatsächlich ist die Evidenz über die Wirksamkeit solcher Maßnahmen gemischt, das liegt aber oft daran, dass die Zahl der Studienteilnehmer oft klein ist.

Wie viel Zeit verbringen Sie selbst in der Natur?
Hier in Stanford im Moment mehr als sonst, weil ich in Mannheim als Klinikdirektor einen recht geregelten Arbeitstag habe. Ich bin persönlich auch jemand, der zwar gerne in Mannheim arbeitet, aber  nicht in Mannheim wohnen würde.

Und wie lange beschäftigen Sie sich wirklich schon mit dieser Forschung?
Seit 2007. Wir haben damals die ersten Untersuchungen gemacht zu Themen wie: Wie wirken Städte aufs Gehirn? Dadurch riefen wir diese Forschungsrichtung ins Leben, die jetzt manchmal als imaging environments bezeichnet wird. In den vergangenen Jahren haben wir uns dann eben auch immer stärker mit den Resilienzfaktoren beschäftigt, also mit der Frage: Was können wir konkret tun?

Verschreiben Sie Ihren Patienten auch selbst manchmal Natur statt Tabletten?
Das mache ich relativ häufig. Ich habe auch sehr viele Topfpflanzen in meiner Praxis. Die hatte ich vor dieser Forschung nicht. Gerade bei Patienten, die etwa chronisch depressiv sind, nutzen wir wirklich auch die Natur, um sie aus dem negativen Grübeln rauszubringen.