»Acht Stunden im Seil zu arbeiten, geht nicht nur auf die Arme«

Stephanie Kleissers Berufsalltag spielt sich in schwindelerregenden Höhen ab: Als Industriekletterin reinigt sie riesige Bürogebäude oder Schächte, die so eng sind, dass sie die Seitenwände mit den Ellenbogen berührt. Für den Fall ihres Lebens musste die 43-Jährige aufs Dach eines Weltkulturerbes mitten im Rhein steigen.

SZ-Magazin: Frau Kleisser, wie sind Sie darauf gekommen, beruflich an hohen Gebäuden zu klettern?
Stephanie Kleisser: 1995 saß ich vor der »Tagesschau« und sah die Verhüllung des Reichstags des Künstlerpaares Jeanne-Claude und Christo. Das hat mich umgehauen. Da waren diese kleinen Figuren an diesem grandiosen Bauwerk und kletterten im Seil. Sie hingen die Stoffbahnen auf, unterstützt durch Kran und Flaschenzüge, in dieser riesigen Fassadenstruktur. Das wollte ich auch machen.

Wie wird man Industriekletterin?
Ein erlerntes Handwerk ist hilfreich, ich bin Schreinermeisterin und staatlich geprüfte Holztechnikerin. Die sogenannte Höhenarbeit ist bei uns in Deutschland eine Zusatzqualifikation. Wenn man Ihnen in 100 Metern Höhe erklären muss, wie ein Akkuschrauber funktioniert, dann ist das suboptimal. Bevor ich als Kletterin arbeitete, hatte ich einen Nebenjob in einem Shop für Kletterzubehör. Dort kannte ein Kollege jemanden, der ebenfalls Industriekletterer war, so kam ich zu den erforderlichen Fortbildungen. Nach ein paar Monaten hatte ich die erste Qualifikation.

Und von da an sind Sie nur noch geklettert?
Nein, es gab einen Wendepunkt im Leben. 2013 bekam ich Krebs. Es mag pathetisch klingen, aber ich dachte mir: Wenn ich das hier wirklich schaffe, will ich nur noch das machen, was mir Freude bereitet. Im September 2013 wurde ich operiert. Im Oktober 2014 habe ich meine eigene Firma gegründet. Den ersten Geschäftsplan hatte ich noch im Krankenbett geschrieben. Ich fragte einen Pfleger nach einem Block und einem Stift.

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Warum ausgerechnet dieser Job?
Ich habe einfach eine große Begeisterung für Bauwerke. Jedes hat seinen eigenen Reiz und seine individuelle Schönheit. Ob es nun ein 400 Jahre alter Kirchturm in der Innenstadt, das Dach eines Turms auf einer Insel oder ein Bürogebäude aus Glas im Industriegebiet ist. Und: Ich liebe die Aussicht. Ich erinnere mich gerade an einen besonders schönen Auftrag, eine kleine Baustelle auf einer Insel im Rheingau. Mein Kollege und ich wurden jeden Morgen vom Festland mit einem Boot zur Insel gefahren. Wir reparierten das Schieferdach des Binger Mäuseturms, ein Weltkulturerbe. So etwas macht einen ziemlich ehrfürchtig.

Was muss man mitbringen für den Job? Muss man sportlich sein? Furchtlos?
Man sollte sowohl Respekt vor der Höhe, als auch der Tiefe haben und bereit und in der Lage sein, körperliche Schwerstarbeit zu leisten. Acht Stunden im Seil zu arbeiten, geht nicht nur auf die Arme. Außerdem sollte man teamfähig und eher vorsichtig sein, mit Draufgängertum hat der Beruf nichts zu tun. Sicherheit geht immer vor, deshalb muss man einen kühlen Kopf bewahren können.

Wie sieht ein gewöhnlicher Arbeitsalltag aus?
Gebäude stehen ja meist nicht mutterseelenallein in der Gegend rum, sondern da sind andere Bauwerke, Fußgänger und Autos. Nach einer Besichtigung plane ich zuerst immer die Absperrung. Dann das Personal, denn wir sind aus Sicherheitsgründen mindestens zu zweit. Ich bin zwar Schreinermeisterin, aber eben nur in dieser Welt des Handwerks zuhause. Wenn ich ein Angebot für eine Schieferreparatur an einem Kirchturm aus dem 18. Jahrhundert habe, dann arbeite ich mit einem kletternden Kollegen, der Dachdeckermeister ist.

»Wenn wir dagegen in einem Glockenturm einer Kirche unterwegs sind, dann sind wir in Jahrhunderte altem Gebälk, zwischen Spinnweben, Staub und Dreck, wo seit Ewigkeiten keiner mehr war«

Was passiert am Gebäude selbst?
Ich trage einen Helm und meinen Klettergurt. Der ist für jede Baustelle anders bestückt, pauschal kann man das nicht sagen. Sicherheitsschuhe und Warn- und Wetterschutzbekleidung gehören auch dazu. Alles andere richtet sich nach dem Arbeitsauftrag: Klettern wir an einer Fassade oder in einem Schacht? Alle Strukturen haben ihren Reiz. Doch draußen hat man Platz und kann auch mal kurz die Aussicht genießen. Wenn wir dagegen in einem Glockenturm einer Kirche unterwegs sind, dann sind wir in Jahrhunderte altem Gebälk, zwischen Spinnweben, Staub und Dreck, wo seit Ewigkeiten keiner mehr war. Außerdem ist in Schächten oft nur sehr wenig Platz, sodass unser Rettungskonzept hier besonders ausgeklügelt sein muss.

Wie lange dauert es, bis die Glasflächen eines ganz hohen Gebäudes gereinigt sind?
Das ist unterschiedlich und hängt davon ab, wie dreckig es ist. Die Reinigung von Bürogebäuden können mehrere Wochen lang dauern. Oft müssen wir dort die Jalousien mit reinigen. Das heißt, wir müssen Lamelle für Lamelle putzen.

Was war Ihr gefährlichster Auftrag?
Ich will mit einem Vorurteil aufräumen: Wir sind weder Abenteurer noch Hasardeurinnen. Wir sind Handwerkerinnen und Handwerker, die an zwei Seilen hängen, was wir tun, ist nicht gefährlich. Wir arbeiten mit einem berufsgenossenschaftlich anerkannten Zugangsverfahren, sind zertifizierte Höhenarbeiterinnen und Seilzugangstechniker. Alles, was wir machen, ist zweifach gesichert. Da ist das Überqueren einer Kreuzung in Berlin gefährlicher.

Spüren Sie trotzdem noch Adrenalin, wenn Sie in die Tiefe schauen?
Ja. Aber das meiste Adrenalin bekomme ich nicht durch die Höhe. Auch nicht beim Schritt über eine Kante, wo man dann im Seil hängt und Kilometer weit gucken kann. Anspruchsvoll sind enge Räume. Es gibt Schächte, da berühren wir beim Abseilen mit beiden Ellbogen die Außenwände. Gucken Sie lieber in die Weite oder auf eine Schweißnaht, zehn Zentimeter vor Ihrem Gesicht?

Sie sehen jeden Tag von außen in viele Räume hinein, wie reagieren die Menschen auf Sie?
Manchmal stellen uns die Menschen Kekse aufs Fensterbrett. Gerade bei Glasreinigungen kommt das vor, da haben wir auch schon mal einen Tee oder Kaffee durchs offene Fenster angeboten bekommen. Natürlich gibt es auch Menschen, die sich gestört fühlen. Das passiert in Wohnhäusern. Ich verstehe das. Wenn man gerade Yoga macht, will man nicht, dass da eine fremde Person am Fenster hängt. Und bei Bürogebäuden gibt es eine goldene Regel: Die Fenster der Chef-Etage dürfen nur nach Feierabend gereinigt werden.

Haben Sie schon mal jemanden bei irgendetwas erwischt, als Sie gerade am Fenster hingen?
Einmal hat eine junge Frau in einem Büro sehr lange auf ihrem Handy gespielt, obwohl sie offensichtlich bei der Arbeit war. Ich hing direkt hinter ihr und machte die Jalousien der Fenster sauber. Ein Vorgesetzter kam herein und sie ist sehr erschrocken. Das war für uns draußen auch ein lustiger Moment.