Eine Maschine, die Sehnsucht lindert

Beim Sport verbringt unser Autor viel Zeit in Arizona – obwohl er sich in Wahrheit im Fitnessstudio befindet. Über ein Laufband mit Monitor, das beim Träumen hilft.

Laufen. Träumen. Unter Menschen sein und doch allein.

Illustration: Masha Krasnova-Shabaeva

Das Leben wird nicht leichter, und ich auch nicht. Möglicherweise sind wir uns einig, Sie und ich, dass das Laufband in einem Fitnessstudio keine glamouröse Option ist, den zunehmenden Beschwerlichkeiten des Alltags und des Alters etwas entgegenzusetzen. Aber bitte, ehe Sie urteilen – ich habe etwas Unglaubliches entdeckt: Das Laufband ist auch eine Maschine, die Sehnsucht lindern kann.

Ich wähle die Einstellung »Arizona-Trail« auf dem Monitor des Gerätes und setze Noise-Cancelling-Kopfhörer auf. Und so, wie im Zimmer des einsamen Rabauken Max in Wo die wilden Kerle wohnen plötzlich ein Wald »wuchs und wuchs, bis die Decke voll Laub hing und die Wände so weit wie die ganze Welt waren«, so laufe ich mit einem Mal nicht mehr in einem Fitnessclub, sondern auf einem schmalen Pfad durch ein vielfar­biges Sandsteinwunder in einem 455 Quadratkilometer großen Naturpark an der Grenze zwischen Arizona und Utah: der Paria Canyon – Vermilion Cliffs Wilderness.

Jeder hat wenigstens einen Ort der Träume, nicht wahr? »The Wave« heißt die wellenförmige Formation, in der Gesteinsschichten der vergangenen 200 Millionen Jahre kilometerweit übereinander sichtbar liegen wie elegant fallendes Haar einer rotblonden Schönheit aus einem Leonard-Cohen-Lied. Nur eine Handvoll Menschen darf das Schutzgebiet jeden Tag betreten, manche müssen Jahre warten auf ein Ticket. Die wenigen Eintrittskarten werden zum Teil online und zum Teil vor Ort verlost. Ich war nie an diesem magischen Ort, aber ich kenne jede Biegung des schmalen Pfades durch das Gebiet, jede Steigung, jeden kargen Baum, jeden Schattenwurf der gewaltigen Felsen. Ich höre kein Knirschen des goldschimmernden Sandsteins unter meinen Schritten und kann mir das Geräusch dennoch denken, ich atme drei Schritte ein und atme drei Schritte aus und drei Schritte ein und spüre die trockene Hitze der Wüstensonne. Ich bin ganz woanders und ganz da. Vielleicht haben wir verlernt, die Schönheit zu sehen, die uns umgibt. Aber wenn man ganz genau hinschaut, sieht man sie überall.

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Es gibt Unternehmen, die Filme wie diesen vom »Arizona-Trail« produzieren, sie drehen auch Laufstrecken in Regenwaldgebieten, an Sandstränden bei Alcúdia, auf Wanderpfaden in Alpentälern. Dann schneiden sie ihre Filme zurecht und verkaufen sie an die Hersteller von Fitnessgeräten wie diesem hier. Ich laufe. Ich träume. Ich bin unter Menschen und doch allein. Ich laufe und bewege mich nicht vom Fleck, ich komme nie am Ziel an und habe es doch schon erreicht.

Sehnsucht ist nicht nur ein Gefühl, sondern eine Sammlung von Gefühlen, zusammengesetzt aus Erinnerungen, Wünschen, Träumen. Was genau macht diesen Ort zu einem Sehnsuchtsort für mich? Ist es das Licht? Sind es die Farben? Meine Erinnerungen an frühere Reisen an andere Orte der Welt? Ich weiß es nicht genau. Aber war es eigentlich irgendwo so schön wie in meiner Vorstellung? Ich steige vom Laufband ab, glücklich. Vielleicht muss man gar nicht überall hin, wo man unbedingt gewesen sein will.