Piña Co-Leder

Wer auf tierische Produkte verzichten will, hat mit Leder ein Problem. Die Expertin Carmen Hijosa fragte sich: Lässt sich Leder auch auf andere Art gewinnen – etwa aus einer Frucht?

Illustration: INTERFOTO

Sich für das Richtige zu entscheiden, ist das Dümmste, das sie je getan hat. Sie will sich ihrer Verantwortung stellen – wieso kommt sie sich dann so verantwortungslos vor? Du dummes Weib, deine Tochter ist fünf, Ideale reichen nicht, um ein Kind zu ernähren! So schimpft Carmen Hijosa mit sich selbst.

Es ist 1995, die Philippinen wollen ihre Lederindustrie ausbauen. Deshalb ist Hijosa dort. Die Spanierin ist zu der Zeit Anfang vierzig und hat fast die Hälfte ihres Lebens in der Lederbranche gearbeitet. Als Beraterin hilft sie Firmen auf allen Kontinenten dabei, aus Leder Produkte zu entwickeln, sie zu vermarkten, Kunden zu gewinnen. Diesmal rief das Designzentrum der Philippinen, eine Kreativschmiede des Handels- und Industrieministeriums. Bisher hatte Hijosa nur mit fertigem Leder zu tun gehabt, nicht mit dem Rohmaterial. Auf den Philippinen aber soll sie auch die Produktion von Leder ausbauen.

Bevor Hijosa beginnt, will sie sich mit dem unbekannten Feld vertraut machen. Welche Auswirkungen haben Viehhaltung und Verarbeitung? Wer sind die Menschen, die als Farmer und Gerber das Leder erzeugen? Mit welchem Material arbeite ich da eigentlich?

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Die Stadt Meycauayan ist ihr erstes Ziel, ein Zentrum für Lederverarbeitung. Mehrere Tausend Menschen arbeiten dort in der Branche. Hijosa ist darüber erschrocken, was sie sieht: Die Männer, die in den Gerbereien Fleisch und Gewebe von Tierhäuten schaben, sind dürr, ihre Augen sind eingefallen, sie wirken müde. Die Blässe färbt ihren südlichen Teint gelb. »Ich dachte: Da schuftet eine Armee von Kranken«, sagt Hijosa heute.

Die nächsten Schritte des Gerbeprozesses übernehmen Behälter, die aussehen wie platt gedrückte Bierfässer. Darin werden die Häute mit Chrom- und Aluminiumsalzen geschleudert: Trennt man Haut vom Körper, muss man ihr schnell die Flüssigkeit entziehen. Nur so bleibt das Leder haltbar.

Außerhalb der Fabrik ist Hijosa von Gestank eingehüllt. Mehr als hundert Gerbereien gibt es in der Umgebung. Die meisten leiten ihre Abwässer in den Fluss, der den gleichen Namen trägt wie die Stadt, den Meycauayan. So werden große Mengen des schwermetallhaltigen Chromdioxids entsorgt, eines Rückstands der Chromsalze. Chromtrioxid kommt in der Natur nicht vor. Es ist wasserlöslich und verbreitet sich schnell. Schon geringe Mengen sind krebserregend, können das Erbgut verändern, zu Allergien, Ekzemen und chronischen Atembeschwerden führen. Menschen nehmen es über Haut, Schleimhäute oder Lunge auf. Die Europäische Union wird Chromtrioxid später, 2014, als »besorgniserregende Substanz« bezeichnen und damit behandelte Lederwaren verbieten. Aus dem Meycauayan und seinen Nebenarmen beziehen mehr als 250 000 Menschen in und um Manila, der Hauptstadt der Philippinen, das Wasser für ihre Felder und Gärten, Duschen und Waschbecken. Der Fluss mündet in die Bucht von Manila, wo Fischer im Meer nach Krebsen und anderen Schalentieren fischen.

Der Gestank der Chemie, der beim Gerben in die Nase fährt, das Gift, das in die Umwelt dringt, die Ausbeutung – das öffnet Hijosa die Augen. »Ich habe mich gefragt, wie ich so lange so unfassbar naiv sein konnte«, sagt sie im Rückblick. Damals beschließt sie, nie wieder mit Leder zu arbeiten. Sie kündigt.

Es fühlt sich richtig an. Aber natürlich fürchtet sie sich auch. Woher soll das Geld kommen? Was ist mit ihrer Tochter? Sie muss sich neu erfinden.

Hijosa informiert sich über Nachhaltigkeit, umweltfreundliche Produkte, Naturschutz. Sie fängt an, die Weltbank und die EU zu Arbeitsbedingungen und Produktionsqualität auf den Philippinen zu beraten, sie setzt sich für faire Löhne ein und für mehr Umweltbewusstsein. Aufträge kommen unregelmäßig, die Honorare reichen gerade so.

Sie stößt auf einen Namen: Der deutsche Chemieprofessor Michael Braungart plädiert für ein Denken in Kreisläufen. Der Kern seiner Vision: Die Natur lässt keine Abfälle zurück, sondern alles Verbrauchte dient als Grundlage für etwas Neues. »Cradle to cradle« nennt Braungart diese Philo­sophie. Von der Wiege bis zur Wiege – nicht bis zur Bahre. Hijosa ist gefesselt. Doch noch weiß sie nicht, wie sie diese Philosophie ummünzen könnte.

Seit sie die Gerbereien gesehen hat, fühlt sie sich den Philippinen verpflichtet. Sie fährt wieder hin, besucht Farmen und Plantagen, hört sich die Geschichten alter Frauen an und beobachtet die Feldarbeit junger Männer. Ihre Zukunft findet sie schließlich in einer jahrhundertealten Tradition.

Der »Barong Tagalog« ist eine Tracht der Philippinen, eine Art weißes Hemd, so lang, dass es noch die Hälfte der Oberschenkel bedeckt. Die Einwohner der Philippinen tragen den Barong Tagalog auf Geburtstagen oder Hochzeiten. Das Gewand weben sie aus einem Textil, von dem Hijosa damals nie gehört hat: Piña. Die Blätter des Ananasbaumes, zwischen denen die Frucht hervorsprießt, werden in Fasern aufgetrennt. Als weiße Fäden hängen sie dann über Bambusrohren, um zu trocknen. Hijosa befühlt das Material. Die Oberfläche ist rau, trotzdem gleitet es sanft durch ihre Finger. Der Stoff ist reißfest. Er ist dehnbar. Und er geht aus Material hervor, das als Abfall gilt – Ananasblätter werden meistens weggeworfen oder verbrannt. Hijosa ist sich sicher: In diesen Fasern steckt die Idee von »Cradle to cradle«.

Die Ananas ist, nach der Banane, die beliebteste Tropenfrucht der Erde. Weltweit werden jährlich rund 25 Millionen Tonnen geerntet. Etwa jede zehnte Ananas wächst auf den Philippinen. Hijosa überlegt, was man aus Ananasfasern noch fertigen könnte. Mal ins Blaue gedacht: Was ist mit Leder? Könnte man aus Pflanzenfasern eine solche Struktur gewinnen? Die gegerbte Haut von Tieren ist ja auch eine Art Netz. Hijosa zieht mit ihrer Tochter nach Irland, um zu studieren: Textilwissenschaft an der Akademie für Kunst und Design in Dublin, einer Kaderschmiede. Es ist kurz vor der Jahrtausendwende, Hijosa ist fast fünfzig Jahre alt und Erstsemester.

In den ersten Jahren lebt sie am Existenzminimum. Dabei gilt sie in der Lederindustrie nach wie vor als Expertin. Sie bekommt Woche für Woche Anfragen – neue Aufträge, neue Jobs, sie müsste nur zusagen. Mit jedem Angebot hinterfragt sie ihre Prinzipien. Sind sie wirklich wichtiger als ein sorgenfreies Leben für ihre Tochter und sich?

In den Praxismodulen des Studiums arbeitet Hijosa mit Piña. Weil es kaum Projekte an der Universität gibt, die nicht nur modisch, sondern auch nachhaltig ausgerichtet sind, fördert die Akademie Hijosas Arbeit.

2002 schließt Hijosa ihr Studium ab. Mit einem Bekannten aus der Lederindustrie gründet sie eine Firma. Von Webern auf den Philippinen bezieht sie Piña-Stoffe, sie verfeinert das Textil und entwirft Luxusprodukte: Kleider, Taschen, Accessoires. Sie zahlt ihren Lieferanten faire Preise. Die Nachfrage ist gut, der Umsatz auch. Trotzdem ist Hijosa unglücklich. Die Firma produziert nur teure Einzelstücke. Weil diese aufwendig sind, bleibt ihr kaum Zeit für die Suche nach dem, worum es ihr eigentlich geht: einem Lederersatz, geschaffen aus Piña. Sie will die Firma neu ausrichten. Ihr Partner weigert sich, den Erfolg zu riskieren.

»Du hast keine Verantwortung für die Welt«, sagt er.
Doch, sagt sich Hijosa im Stillen. Sie verlässt die Firma.

Es ist jetzt 2009, Hijosa ist inzwischen Ende fünfzig – und fängt abermals von vorne an. Sie studiert am Royal College of Art in London, der renommiertesten Designakademie der Welt. Die Akademie hat ein Innovationsprogramm gegründet: Es soll Doktoranden unterstützen, die zukunftsträchtige Werkstoffe entwickeln wollen. Wird ein Projekt in das Programm aufgenommen, wird ein Team aus Wissenschaftlern gebildet und den Doktoranden an die Seite gestellt.

Hijosas Plan, einen Lederersatz aus Ananasfasern herzustellen, schafft es ins Programm. Wieder gründet Hijosa eine Firma. Sie tauft sie »Ananas Anam«. Ihrem Start-up werden sechs Forscher zugeteilt, darunter ein Chemiker. Wo ihr Team nicht weiterkommt, fragt sie nach Hilfe. Sie wendet sich an Bekannte aus der Lederindustrie, an Fachleute für Materialtechnik. Viele verspotten sie. »Ideologische Träumerei«, sagen manche. »Leder aus Ananas, das ist unmöglich«, warnen sie andere. »Du hast dich verrannt«, sagt ihr alter Partner. Nur wenige nehmen ihr Angebot zur Zusammenarbeit an.

Hijosa beginnt zu experimentieren. Als Faser lassen sich Ananasblätter weben. Aber wie wird das Zeug fest und formbar?

Leder. Es muss möglich sein, irgendwie. Hijosa beginnt zu experimentieren. Nach und nach wird ihr klar: Die Moleküle sind das Problem. Als Faser lassen sich die Ananasblätter gut weben, aber jeder Versuch scheitert, daraus eine durchgängig feste Masse herzustellen. Meistens zerfällt jede Struktur wieder in die Ausgangsform, in Fasern. Wie wird das Zeug fest und damit formbar? Flüssigkeit zu entziehen, wie bei Tierleder, hilft nichts. Auch Versuche, die Fasern mit einer Art Lack zu fixieren, scheitern: Danach lässt sich das Material nicht mehr schneiden. Chemikalien? Nein, das würde die gesamte Idee untergraben. Als es endlich gelingt, eine feste Masse zu formen, ist das Material hart wie Holz. Leder aber muss weich und dehnbar sein. Fünf Jahre lang forscht Hijosa an den Fasern. Eine Idee ebnet den Weg: Was, wenn sie die Abfälle der Ananas wie einen ganz anderen Werkstoff verarbeitet – wie Filz?

Als Erstes löst Hijosa Pektin aus den Blättern. Dieses Molekül ist ein Steifmacher, deswegen verwendet man es oft als Geliermittel. Ohne Pektin werden die Fasern der Ananas nun tatsächlich weich und flexibel. In diesen Stoff stechen dann spezielle Nadeln tausendfach ein, Stich von oben, Stich von unten, verschlingen die Fasern, verfilzen sie – bis eine stabile, robuste Struktur entsteht. Um das Material noch wasserfest zu machen, wird es mit natürlichen Lacken behandelt. Mit welchen, ist Hijosas Geschäftsgeheimnis.

Hijosa gibt ihrer Erfindung den Namen Piñatex. Die Internationale Organisation für Normung urteilt, Piñatex erfüllte die Standards für Stärke, Farbechtheit, Abnutzung, Flexibilität und Resistenz vor Verbrennungen, die an Leder gestellt werden. Es könne gut bedruckt, gefärbt und geschnitten werden.

Im Dezember 2014 – zwei Jahrzehnte, nachdem sie mit der Lederindustrie brach – darf Hijosa ihr Textil im großen Stil präsentieren. Sie ist nun 62 Jahre alt, die Londoner Kunsthochschule hat aus ihrer Abschlussarbeit eine Sonderausstellung gemacht. »Das war der wundervollste Tag meines Lebens«, sagt sie. Große Medien sind zu Gast, Vertreter internationaler Mode- und Textilfirmen. Auch Michael Braungart ist da. Seine Idee von »Cradle zu cradle« hatte Hijosa entscheidend beeinflusst. Und er ist begeistert. »Dieses Projekt ist einzigartig«, sagt er heute. »Piñatex ist abfallfrei, lässt sich kompostieren – Carmen setzt damit genau um, was ich gemeint hatte.«

Hijosa zeigt bei der Präsentation nicht nur den Lederersatz aus Ananasfasern, nicht nur den Werkstoff an sich. Sie hat schon Prototypen eines Rucksacks, eines Sessels, von Taschen herstellen lassen – und von Schuhen. Dieser Markt ist für Piñatex vielversprechend: Menschen, die auf tierische Produkte verzichten, haben oft das Problem, dass in nahezu allen Schuhen Leder verarbeitet ist. Mit Piñatex lassen sich vegane Schuhe herstellen. Das Material ist bereit für die Industrie. Es ist im Einkauf pro Quadratmeter auch wenige Euro billiger als Tierleder.

2017 und 2018 schaffen es Schuhe und Taschen aus Piñatex auf die Berliner Fashionweek. »Ananas Anam« startet Kooperationen mit Puma, Boss, Camper, Samsung, Porsche und entwickelt Prototypen für diese Marken. Die Wirtschaft fordert von der Firma: Beschaffungswege optimieren, effizienter produzieren – und vor allem viel mehr. Jeden Monat werden 1,5 Milliarden Quadrat­meter Leder hergestellt. »Ananas Anam« schafft im selben Zeitraum bisher nur 3000 Quadratmeter Piñatex.

Aus der industriellen Umsetzung ihres Lederersatzes hat sich Hijosa aber zurückgezogen. Sie forscht nun an einer anderen Pflanzenfaser. Was daraus werden soll? »Ich bin jetzt 66 und bereit für eines der größten Probleme unseres Planeten«, sagt sie: »Plastik.«