»Die Betroffenen schämen sich in Grund und Boden«

Janine Schweitzer entrümpelt Messie-Wohnungen. Der Fall ihres Lebens: eine Frau, die früher alles perfekt haben wollte und dann drei Jahre ihren Müll nicht rausbrachte.

Frau Meyer schlief im Wohnzimmer auf der Couch in einer Kuhle im Müll – auf Zigarettenkippen, Essensresten und Weinflaschen.

Illustration: Lina Müller

SZ-Magazin: Wie viele Messie-Wohnungen entrümpeln Sie im Monat?
Janine Schweitzer, 39: Etwa zwei. Es kann wirklich jeden treffen, egal ob Akademiker, Hartz-IV-Empfänger, Mann, Frau, jung oder alt. Aber es ist wie mit jeder anderen Krankheit: Die Betroffenen müssen erst mal an einen gewissen Punkt kommen, bevor sie sich Hilfe suchen. Ohne begleitende Therapie kann es allerdings sein, dass es nach einem halben Jahr wieder so aussieht.

Waren Sie schon zwei Mal bei derselben Person?
Nein. Ich bin mir auch nicht sicher, ob die Betroffenen nochmal anrufen würden. Das Schamgefühl, das sie beim ersten Mal schon hatten, wäre dann noch größer.

»Mir ist es wichtig, ihnen zu vermitteln, dass es gut ist, dass sie sich Hilfe holen«

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Der Fall Ihres Lebens war eine allein lebende Dame Mitte Sechzig, nennen wir sie Frau Meyer. Worum ging es bei ihr?
Eine ihrer Töchter hat sich bei mir gemeldet. Sie selbst war seit zehn Jahren nicht mehr in der Wohnung ihrer Mutter gewesen, weil diese das nicht wollte. Ich bin dann zur Besichtigung hingefahren, das mache ich immer alleine, ohne Team. Dieser Termin ist wichtig, denn die Betroffenen schämen sich in Grund und Boden. Sie befinden sich in einem Negativ-Strudel, aus dem es anscheinend bis zu diesem Zeitpunkt kein Entkommen gab. Alles dreht sich im Kreis, sie sind handlungsunfähig, zerfleischen sich selbst, denken: »Warum kriegst du das nicht hin?« Irgendwann stumpfen sie ab und verfallen in eine Art Lethargie. Wenn ich zu ihnen komme, ist das ein riesiger Schritt für sie, oft sind sie sehr aufgeregt und weinen. Mir ist es wichtig, ihnen zu vermitteln, dass es in Ordnung ist, dass wir ihren Fall bereden, und dass es gut ist, dass sie sich Hilfe holen. Ich sage auch häufig: „Das ist alles machbar. Kein Problem. Das kriegen wir gewuppt.“ Ich weiß ja, dass wir es gewuppt kriegen.

Wie war Ihr erster Eindruck von Frau Meyer?
Sie hat mich im Vorgarten empfangen, eine sympathische, schlanke und gebrechlich wirkende Dame, gut angezogen, etwas geschminkt. Normalerweise mache ich das Vorgespräch in den betroffenen Räumlichkeiten, aber wir haben draußen etwa eine Stunde gesprochen, um uns kennenzulernen und Hemmungen abzubauen.

»Ich habe es bei den Messie-Fällen öfter mit Perfektionisten zu tun – total paradox«

Was hat sie Ihnen erzählt?
Sie war sehr offen und ehrlich. Sie sagte, dass sie täglich und viel trinkt. Sie hatte drei Kinder und ist nicht damit nicht klar gekommen, als diese ausgezogen sind, sie bekam Depressionen. Ich vermute, dass ein Kind gestorben ist, denn später war nur noch von zweien die Rede. Auch die beiden Töchter, die ich kennengelernt habe, haben kein drittes Geschwister erwähnt. Frau Meyers Partner ist, soweit ich weiß, ebenfalls verstorben. Sie konnte sich überhaupt nicht erklären, wie es so weit kommen konnte, früher sei sie ganz anders gewesen, das hat auch eine Tochter bestätigt: sehr sauber, ordentlich, strukturiert, diszipliniert, immer zurechtgemacht. Das komplette Kontrastprogramm also. Ich habe es bei den Messie-Fällen öfter mit Perfektionisten zu tun – total paradox.

Wie sah es in der Wohnung aus?
Wir gingen vom Garten aus ins Schlafzimmer. Dort musste ich mich vorsichtig bewegen, um nichts umzustoßen, aber die Wände und Möbel waren weiß, nichts war feucht-schimmlig, heruntergekommen oder wirklich eklig. Die Tür zum zweiten Zimmer bekam ich dann kaum auf und musste mich hindurchzwängen. Der ganze Fußboden lag voller Weinflaschen, ich musste mich beim Laufen an den Wänden festhalten, sonst hätte ich mir die Knöchel verstauchen können. Außerdem schlug mir ein unangenehmer Geruch entgegen und es gab Millionen von Fruchtfliegen. Frau Meyer sagte mir, dass sie seit drei Jahren keinen Müll mehr rausgebracht hätte. Was mich aber am meisten schockiert hat, war der Schlafplatz.

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Wieso?
Sie hatte im Wohnzimmer auf der Couch eine Kuhle im Müll. Sie hat auf Zigarettenkippen, Essensresten, Weinflaschen und Müll geschlafen, umgeben von Fruchtfliegen. Und das, obwohl das Schlafzimmer weitaus angenehmer gewesen wäre.

Haben Sie nachgefragt, warum sie das gemacht hat?
Nein, das hätte ich unangebracht gefunden. Damit hätte ich sie eventuell emotional in die Ecke gedrängt.

Wissen Sie, wie es Frau Meyer heute geht?
Sie erwähnte damals, dass sie sich in Therapie begeben möchte, aber ich hatte seitdem keinen Kontakt mehr zu ihr, nur zu ihrer Tochter. Ich weiß, dass sie während unserer Arbeiten im Krankenhaus war, dort haben sie festgestellt, dass drei ihrer Rückenwirbel angebrochen waren. Ich habe keine Ahnung, was da passiert ist. Vielleicht ist sie auf den Flaschen ausgerutscht und hingefallen.

Wie lange haben die Arbeiten in Frau Meyers Wohnung gedauert?
Vier Tage haben wir geräumt, gereinigt und danach eine Raumdesinfektion durchgeführt. Danach sind die Maler noch einen Tag rein. Wir haben aus den zwei Zimmern etwa dreitausend Flaschen rausgeholt.

Warum hat Frau Meyers Fall Sie besonders mitgenommen?
Es war schlimm für mich, diese gebrechliche Frau an diesem Schlafplatz zu wissen, und dass sie so gefangen in ihrer eigenen Verhaltensweise war. Das habe ich wirklich mit nach Hause genommen, wir haben auch im Team mehr darüber gesprochen als über andere Fälle. Vielleicht war sie mir auch einfach besonders sympathisch. Meine Mutter wäre jetzt auch etwa in diesem Alter.

Trotz aller Belastung: Was mögen Sie an ihrem Job?
Der Vorher-Nachher-Effekt macht einfach Spaß. Ich habe vorher in der Schädlingsbekämpfung gearbeitet und dann kam eine Anfrage von einem Messie, der Rattenbefall hatte. Diese Immobilie wieder bewohnbar zu machen, war einfach erfüllend.