»Sie war schon mit zwölf auf dem Babystrich«

Juri Schaffranek ist seit Ende der Achtzigerjahre Streetworker in Berlin. Der Fall seines Lebens: Mareike, deren Hand er bis zum Ende hielt.

Mareike lebte in einem Kellerverschlag. Ihre Ansage: »Ich möchte nicht mehr ins Krankenhaus. Ich will meinen Tod und mein Ende selbst bestimmen.«

Illustration: Lina Müller

SZ-Magazin: Wieso sind Sie Streetworker geworden?
Juri Schaffranek (59): In den Siebzigerjahren gerieten viele meiner Schulkameradinnen und Kameraden in die Drogenszene. Ich habe damals auch Drogen konsumiert, das gehörte zum Jugendlichen experimentieren dazu, war aber nie süchtig. Trotzdem hätte mir das genauso gut passieren können. Durch die Nähe zur Szene und meine eigenen Erfahrungen hoffte ich, Hilfe anbieten und als Identifikationsperson auf der Straße etwas bewirken zu können.

Welche Eigenschaften braucht ein guter Streetworker?
Eine sehr gefestigte Persönlichkeit und ein sehr gutes Nähe-Distanz-Verhältnis. Außerdem muss man gut verhandeln können, denn man ist so eine Art Sprachrohr zwischen verschiedenen Institutionen und dem Menschen, mit dem man arbeitet. Und man braucht eine hohe Ambiguitätstoleranz, muss also Sachen aushalten können, die nicht ins eigene Wertesystem passen. Wenn sich jemand seinen Verstand wegsäuft, darf man zwar eine klare Haltung dazu haben, aber den anderen nicht dafür verurteilen.

Dieses »Aushalten-Können« hat Sie vor allem der Fall Ihres Lebens gelehrt, eine junge Frau, nennen wir sie Mareike. In welcher Situation sind Sie ihr begegnet?
Als ich Ende der Achtzigerjahre anfing, in der Berliner Drogenszene zu arbeiten, war das große Thema HIV und Aids. Viele Süchtige mit Aids im Endstadium wurden nicht im Krankenhaus aufgenommen, weil sie verwahrlost und nicht in der Lage waren, sich an Regeln zu halten – und viele wollten auch gar nicht mehr aufgenommen werden.

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»Einmal hat Mareike den Arzt gefragt: Sie wollen mich also nüchtern meinen Tod erleben lassen? – Ich fand diese Frage ziemlich berechtigt«

Und Mareike war eine von ihnen?
Ja. Sie war schon mit zwölf Jahren auf dem Babystrich und hat sich dort mit HIV angesteckt. Als ich sie kennengelernt habe, war sie 16, ab da habe ich sie eineinhalb Jahre betreut. Sie hatte Aids im fortgeschrittenen Stadium, sichtbare Kaposi-Sarkome im Gesicht, war schwerst abgemagert. Es war klar, dass sie sterben würde. Sie war mehrere Male im Krankenhaus, ist aber immer wieder rausgeflogen, unter anderen, weil sie die Medikamentenschränke geplündert hat. Ihr Ziel war es ja nicht, clean zu werden. Genau das hat man aber von ihr für eine Behandlung verlangt: Ohne eine gewisse »Compliance«, hieß es, sei diese rausgeschmissenes Geld. Das war extrem zynisch, aber damals so üblich. Einmal hat Mareike den Arzt gefragt: »Sie wollen mich also nüchtern meinen Tod erleben lassen?« – Ich fand diese Frage ziemlich berechtigt. Nach dem fünften oder sechsten Krankenhausaufenthalt wollte sie nicht mehr.

Was hat sie dann gemacht?
In einem Haus gab es einen Kellerverschlag, in dem sie im Winter schon öfter übernachtet hatte. Ihre klare Ansage war: »Ich möchte nicht mehr ins Krankenhaus, ich möchte hierbleiben. Ich will meinen Tod und mein Ende selbst bestimmen.«

Wie haben Sie darauf reagiert?
Das war ein schwerer Konflikt für mich. Auf der einen Seite waren da diese paternalistischen Gedanken: »Das geht nicht! Ich weiß, was gut für dich ist – du bist drogenabhängig und weißt es nicht!« Aber auf der anderen Seite war mir klar, dass ich ihre Entscheidung akzeptieren muss, auch, wenn ich sie nicht gut finde. Es ging um ihre Würde, die sie für sich selbst bestimmt hat. Und weil ich die einzige Person war, die sie noch akzeptiert hat, habe ich sie bis zu ihrem Tod betreut.

Wie lange ging das?
Knapp zwei Monate. Ich war fast täglich bei ihr. Sie hatte sich in dem Verschlag mit einer doppelten Isomatte, einem Sofakissen, einem Schlafsack und einem Camping-Kocher eingerichtet. Ich habe ihr Essen und Trinken gebracht, am Ende nur noch Flüssignahrung. Ihre Toilette war ein verschließbarer Eimer, den ich regelmäßig geleert habe. Heikel war, dass mir Leute aus der Szene Drogen für sie mitgegeben haben. Wenn ich damit erwischt worden wäre, hätte ich ein großes Problem gehabt.

Warum haben Sie es trotzdem gemacht?
Mareike hatte ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und Sterben. Darum habe ich das in Kauf genommen. Gott sei Dank ist nie was rausgekommen.

Sie sagten, dass man in Ihrem Job ein gutes Nähe-Distanz-Verhältnis braucht. Waren Sie bei Mareike nicht viel zu nah dran?
Ich war nah dran, keine Frage. Aber ich hätte sie zum Beispiel nicht mit nach Hause genommen – was andere Streetworker durchaus gemacht haben. Das halte ich für einen Schritt zu weit.

»Ich habe ihre Hand gehalten, als sie gestorben ist«

Waren Sie dabei, als Mareike gestorben ist?
Ja. Sie sagte: »Es wäre schön, wenn du heute bei mir bleiben würdest, ich glaube, ich mache es nicht mehr lang.« Ich habe ihre Hand gehalten, als sie gestorben ist.

Das klingt sehr hart.
Es war hart. Aber gar nicht so sehr das Sterben selbst. Was mich total belastet hat, war diese Einsamkeit. Keiner war da. Die Eltern gab es zwar noch, aber die wollten mit ihrer Tochter nichts zu tun haben, für sie war sie »eine drogenabhängige Hure«. Dieses Erlebnis hat mich extrem geprägt.

Was haben Sie gemacht, nachdem sie gestorben ist?
Ich hab der Feuerwehr gemeldet, dass wir eine Betreute von uns in einem Keller tot aufgefunden haben. Dann ist sie abgeholt worden.

Wäre ein Fall wie der von Mareike heute noch möglich? Aids ist ja mittlerweile viel besser behandelbar.
Auch der Umgang mit Drogenabhängigen hat sich seit der Mitte der Neunzigerjahre durch den akzeptierenden Ansatz komplett gewandelt. Es ist viel mehr Verständnis da und im Krankenhaus gibt es die Möglichkeit zur Methadonbehandlung. Dafür gibt es in unserem Job heute andere Probleme, weil Soziale Arbeit extrem betriebswirtschaftlich bewertet wird. Dabei geht es oft nicht darum, besonders »effektiv« zu sein, sondern um menschliche Grundbedürfnisse: da sein, eine Hand halten, Trost spenden. Wie bei Mareike. Das sind Sachen, die nicht messbar sind und darum werden Soziale Berufe abgewertet und schlecht bezahlt, während Investmentbanker tierisch viel Geld verdienen. Das ist sehr frustrierend.

Was sind heute Schwerpunkte ihrer Arbeit?
Ich bin bei Gangway e.V. für die Arbeit mit Obdachlosen zuständig und für jugendliche Cliquen im Bereich »Rausch- und Risikokompetenz«. Weil wir dabei viel Kontakt zu jungen Menschen mit Migrationshintergrund haben, entwickle ich auch transkulturelle Projekte mit. Ich habe nicht mehr lange bis zur Rente und mache insgesamt mehr organisatorische Arbeit als früher. Aber die aktuellen Entwicklungen auf der Straße kriege ich immer noch mit.

Gab es damals eigentlich eine Beerdigung für Mareike?
Eine anonyme Feuerbestattung. Ich habe ein paar von ihren Szene-Freunden Bescheid gesagt, insgesamt kamen so um die 20 Leute. Das ist bei solchen Fällen nicht die Regel, aber ich habe es für sie organisiert. Weil es mir doch einen ziemlichen Respekt abgerungen hat, wie selbstbestimmt sie in den Tod gegangen ist.