»Ich hoffe, diese WM ist uns eine Lehre, wie sehr der Fußball missbraucht wird«

Die Ex-Nationalspielerin Tabea Kemme tritt bei der WM in Katar als Fernsehexpertin auf und berät eine Initiative für mehr Diversität im Fußball. Im Interview sagt sie, warum sie als homosexuelle Frau nach Katar fährt, wie sie Fehler des DFB schon am Fahrstuhl in Frankfurt erkennt und wieso ein Boykott der WM die falsche Antwort wäre.

Katar ist offen feindselig gegenüber homosexuellen Menschen. Tabea Kemme reist trotzdem dorthin.

Foto:Getty Images / Maja Hitij

Tabea Kemme, 30, hat zwischen 2013 und 2018 47-mal für die deutsche Fußballnationalmannschaft gespielt und unter anderem 2016 Olympisches Gold gewonnen. Ihre Karriere beendete die Abwehrspielerin beim Arsenal LFC wegen einer langwierigen Knieverletzung. Kemme ist Polizeikommissarin und tritt als Fernsehexpertin bei Fußballübertragungen auf. Sie berät außerdem die Initiative »Fußball kann mehr«, die sich für mehr Diversität, Geschlechtergerechtigkeit und Nachhaltigkeit im Fußball einsetzt.

SZ-Magazin: Tabea Kemme, wenn am Sonntag die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar beginnt – wo schauen Sie das Eröffnungsspiel an?
Tabea Kemme: Ich bin als Expertin bei Magenta TV in deren Studio in München. Wäre ich nur Fan, würde ich die WM wahrscheinlich nicht schauen. Dabei liebe ich es, in Gesellschaft Fußball zu gucken, man trifft sich in einer Kneipe, trinkt ein Bierchen, isst etwas, hat eine schöne gesellige Runde. Aber diesmal ist das schwierig.

Tausende Menschen, darunter viele Gastarbeiter aus Nepal, sind auf den Baustellen für dieses Sportereignis gestorben. Die Menschenrechtssituation in Katar ist katastrophal – sollte man diese WM besser ignorieren?
Das muss jeder mit sich selbst ausmachen. Aber wir sollten uns fragen: Was ist der Fußball für uns? Eigentlich doch 90 Minuten, in denen wir alles andere vergessen können und uns am Ende vielleicht vor Freude in den Armen liegen. Diese Leichtigkeit geht verloren, wenn man sich bewusst macht, dass der Fußball missbraucht wird durch das System, das hinter ihm steckt. Viele Verbände sind monströse, undurchsichtige Gebilde. Haben Sie die ZDF-Dokumentation »Geheimsache Katar« gesehen, die gerade ausgestrahlt wurde? Es ist erschreckend, was da für Menschen in entscheidenden Positionen am Werk sind, welches Wertesystem transportiert wird. Da sitzt Katars WM-Botschafter und sagt, Homosexualität sei ein geistiger Schaden.

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»Wie ich liebe, ist in Katar strafbar. Aber ein Boykott würde
bedeuten, dass ich mich den Zuständen nicht stelle«

Sie sind selbst homosexuell und kämpfen gemeinsam mit der Initiative »Fußball kann mehr« für Geschlechtergerechtigkeit und Diversität im Fußball. Was macht so eine Aussage mit Ihnen?
Ich befinde mich seit Monaten in einem inneren Konflikt, weil ich mir nicht sicher war, was ich tun würde, wenn eine Anfrage als Expertin kommt. Kann ich das mit mir vereinbaren? Will ich das? Wie ich liebe, ist in Katar schließlich strafbar. Aber ein Boykott kommt für mich nicht in Frage. Seit meinem Karriereende reise ich viel und besuche soziale Projekte in aller Welt. Dadurch habe ich viele Missstände gesehen. Ein Boykott würde bedeuten, dass ich mich den Zuständen in Katar nicht stelle. Ich will aber die Möglichkeit nutzen, mit meinen Werten vor Ort in den Austausch zu gehen und in dem ein oder anderen die Erkenntnis hervorzurufen, als homosexuelle Frau nicht den vermeintlichen geistigen Schaden zu haben. Deswegen habe ich Magenta TV darum gebeten, während der WM zumindest einmal nach Katar zu reisen. Damit ich mir ein Bild machen kann.

Sie fliegen also hin?
Klar, ich fände es schwierig, hier im Keller zu sitzen und nur aus der Distanz meine Expertise zu geben. Ich war noch nie in Katar, ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, dort zu sein. Zum Spiel Deutschland gegen Costa Rica werde ich hinfliegen und drei Tage vor Ort sein. Wenn ich auf Reisen bin, gehe ich oft einfach los, verlasse das Hotel, schlendere herum, mache Fotos. Das wird dort bestimmt problematisch. Aber ich will auch für mich einstehen. Ich habe eine Maske mit Regenbogen-Muster, die habe ich mal geschenkt bekommen. Wenn es irgendwo in Katar Maskenpflicht gibt, werde ich die Regenbogen-Maske tragen. Alles andere kommt für mich nicht in Frage. Ich bin ein relativ angstfreier Mensch, ich würde notfalls nicht flüchten. Außer, man würde mich des Landes verweisen. Aber Respekt habe ich schon.

Tabea Kemme im Vorrundenspiel gegen Australien bei den Olympischen Spielen 2016 in Brasilien. 

Foto: dpa

Sie haben mal gesagt: »Das Spiel, um das es gehen sollte, wird kaputtgemacht.« Kann die WM nicht auch eine Chance auf Veränderung sein?
Schwierig. Ich hoffe, diese WM ist uns eine Lehre, wie sehr der Fußball missbraucht wird. Vielleicht sagen genug Menschen, dass sie auf diese Art von Fußball keinen Bock mehr haben. Und dann kann im zweiten Schritt eine Chance draus werden. Ich bin aber skeptisch. Nach dem Turnier ist Weihnachten, dann Silvester, dann denkt schon wieder niemand mehr daran. Und es geht ja immer so weiter. Katar hat die WM, jetzt muss der Rivale aus Saudi-Arabien nachziehen und richtet die Asien-Winterspiele 2029 aus. Das kostet die 500 Milliarden Euro, weil dafür ein Skigebiet in die Wüste gebaut werden muss. Wollen die mich eigentlich verarschen?

Wie bewerten Sie die Rolle von DFB und Nationalmannschaft?
Der Erwartungsdruck auf den DFB, Stellung zu beziehen, ist enorm. Aber alles, was kommt, ist so schwammig. Überrascht von den Aussagen von Gianni Infantino zu sein, dass anlässlich der Menschenrechtsverletzungen nun doch kein Entschädigungsfond aufgesetzt wird, zeigt mir, dass sich alle vom Monster FIFA einlullen lassen. Damit wirst du dem Fußball nicht gerecht. Die Spielerinnen und Spieler lernen Werte wie Respekt, Fairplay, Teamwork, aber von den Verbänden kommt zu wenig.

Leon Goretzka hat etwas »Sichtbares« angekündigt. Glauben Sie, dass mehr Spieler diese Lücke ausfüllen werden?
Vielleicht passiert ja etwas, bei dem wir alle denken: Boah, endlich! Aber man darf von den Spielern nicht zu viel erwarten, die müssen sich auch auf den Sport konzentrieren dürfen. Es gibt bestimmt Möglichkeiten für Protest, aber eben im Rahmen der Möglichkeiten vor Ort. Und der Druck kann enorm sein. Leon Goretzka ist ja als sehr meinungsstarker Spieler bekannt, der wird es innerhalb dieses Systems nicht einfach haben. Denn als Spieler und Spielerin ist man vor allem eine Marionette des Systems.

Wie meinen Sie das?
Du gehst deinem Beruf nach, deiner Leidenschaft, aber Einfluss in den Entscheidungsgremien hast du nicht. Den Verbänden ist es lieber, wenn Ruhe herrscht. Eine WM-Teilnahme bringt Geld und Prestige mit sich. Sobald jemand aufmüpfig wird, schrillen dort die Alarmglocken. Ich habe es selbst erlebt, wenn Druck aufgebaut wird. Als ich als Spielerin die Diskrepanz zwischen den Prämien für Nationalspielerinnen und Nationalspieler ansprach, wurde mir vom Verband geraten, das nicht zu tun, von Personen in verantwortlichen Positionen. Als bekannt wurde, dass bei der Frauen-WM 2015 in Kanada auf Kunstrasen gespielt werden sollte, gab es eine Petition der Spielerinnen dagegen, wegen der Verletzungsgefahr und der Hitze. Als wir die unterschreiben wollten, wurde uns ebenfalls deutlich gemacht, dass wir nicht aufmucken sollen. Der Sport wird missbraucht, die Entscheider schieben sich die Kohle hin und her, wie es ihnen gefällt, und wenn jemand Kritik übt, gibt es Druck.

»Natürlich sagt Uli Hoeneß nur positive Dinge über die WM in Katar, weil der FC Bayern von Katar profitiert«

Hummel, Dänemarks Ausrüster, will bei der WM auf dem Trikot nicht sichtbar sein. Es gibt auch ein Video der australischen Spieler, die Kritik an der WM üben. Bringt das etwas?
Es bringt Aufmerksamkeit. Katar holt seit 1993 systematisch Sportgroßveranstaltungen ins Land, in sämtlichen Sportarten. Die Fußball-WM ist da die Krönung, die Aufmerksamkeit ist besonders groß. Da ist es gut, wenn man diese Aufmerksamkeit nutzt, um auf Probleme hinzuweisen. Aber natürlich ist die Frage, ob die Kritik dann vor Ort noch Bestand hat.

Uli Hoeneß sagte zuletzt, die WM verbessere die Menschenrechtssituation in Katar. Was würden Sie ihm entgegnen?
Dass das in Russland und China auch nicht geklappt hat. Und natürlich sagt Uli Hoeneß nur positive Dinge über die WM in Katar, weil der FC Bayern von Katar profitiert, Qatar Airways ist Ärmelsponsor bei den Bayern. Ich traue den wenigsten Persönlichkeiten, die im Fußball Einfluss haben, weil sie Teil eines Systems voller Abhängigkeiten sind. Ich frage mich immer, wo und wie das Geld fließt. Rund um die WM-Vergabe nach Katar soll laut der Doku »Geheimsache Katar« Karl-Heinz Rummenigge zwei Rolex-Uhren erhalten haben. Wenn das stimmt, habe ich für so etwas kein Verständnis. Da kann er ein noch so großer Fußballer gewesen sein.

Die WM in Katar ist ja nur die Spitze der Entwicklung des modernen Fußballs. Wird der Fußball Ihrer Meinung nach seiner gesellschaftlichen Relevanz überhaupt noch gerecht?
Nein. Null. Fußball kann Menschen über alle Klassen und Grenzen hinweg miteinander verbinden. Es gibt tolle Vereinskooperationen mit Schulen zur Vermittlung der Werte im Unterricht und auf dem Platz. Eigentlich. Aber der moderne Fußball ist so abgehoben, dass er das nicht mehr tut. Und es findet eine totale Überflutung und Sättigung statt, die Zuschauerzahlen gehen zurück, die Tickets sind zu teuer. Eine riesige Fehlentwicklung.

Sie sind gesellschaftlich engagiert, Gründerin von »Sports4Education«, Mitglied bei »Common Goal« und »Athletes stand up«, in beratender Funktion tätig bei »Fußball kann mehr«. Was kann der Sport den bestenfalls leisten?
Gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Mich hat der Fußball gelehrt, sozial zu sein, fair zu sein, verantwortungsbewusst zu handeln. Diese Werte müssen aber auch von den Verbänden gelebt werden. Der Fußball hat die Aufmerksamkeit, um erfolgreiche soziale Projekte an den Start zu bringen, im Bereich der Nachhaltigkeit, der Chancengleichheit, der Bildung etwa. Es wäre so viel möglich, weil die Menschen hinsehen. Tja.

Kann der Frauenfußball von den Fehlentwicklungen im Männerfußball nicht auch profitieren? Tanja Pawollek von Eintracht Frankfurt sagte zuletzt: »Wir haben den ehrlichen Fußball.«
Auf jeden Fall. Es braucht im Frauenfußball dieselben professionellen Strukturen wie bei den Männern, da müssen wir viel mehr investieren. Aber von vielem müssen wir auch weiter Abstand halten: dieses Überdimensionale, diese Verhaltensauffälligkeiten. Wie das gehen kann, haben wir in England bei der EM im Sommer gesehen. Da gibt es eine totale Euphorie und Dynamik, auch weil die einen Verband haben, der Bock auf Frauenfußball hat. Mit einer Präsidentin, Debbie Hewitt.

Wenn man Sie morgen zur DFB-Präsidentin wählen würde, was würden Sie als erstes angehen?
Wenn man beim DFB in Frankfurt reinkommt, sieht man direkt am Fahrstuhl die Ebenen der Zuständigkeiten, die die perfekte Veranschaulichung der Hierarchie dieses Verbandes darstellt. Die Teams für Nachhaltigkeit und Fanbelange sind ganz unten, ganz oben ist der Präsident. Als erstes würde ich diese Hierarchie zerschlagen, alles auf eine Ebene packen und mit einer ganz klaren Doppelspitze als Kommunikator:in aller Belange agieren. Dann würde ich den kompletten Laden durchleuchten, um die ganzen Finanzströme zu verstehen. Es braucht Transparenz.