Neue Mitte

Hochzeitstorten, Eheringe, Bürgeridyll: Eigentlich sind Schwule längst die besseren Spießer. Über das neue Selbstverständnis einer Minderheit, die von Abgrenzung nichts mehr wissen will.

Endlich, die Schwulen kommen! Schon seit einer Stunde steht da ein älteres Ehepaar am Rand des Hamburger Glockengießerwalls und hat seinen Platz wacker verteidigt, um ja nichts zu verpassen.

Jetzt aber: Lederkerle, knutschende Matrosen, Technogedonner, Federboas. Es ist CSD, Christopher Street Day, jene einst provozierend-kämpferische Gay-Parade, die heute als moderner Themen-Karneval auf der ganzen Welt stattfindet. Eine ziemlich großbürgerlich anmutende Frau dreht sich zu dem Ehepaar um und sagt strahlend: »Das ist schon eine tolle Kultur – auch wenn man selbst natürlich nicht involviert ist.« So ist das mit den Homosexuellen 2008 in Deutschland: von praktisch allen geliebt, geschätzt und toleriert. Sind doch herzig, die Schwulen.

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Als Modevögel und Trendsetter, als angenehme Nachbarn mit Sinn für Gartenpflege. Man akzeptiert sie, auch als Politiker, evangelische Pröpste oder Quasi-Ehepaare. Bunte und Gala berichten ausführlich, wenn der Promi-Friseur Udo Walz seinem jungen Lebensgefährten in einem Fünf-Sterne-Hotel in Charlottenburg standesamtlich das Jawort gibt. Der DFB-Präsident Theo Zwanziger plant eine Kampagne gegen Homophobie, und der Nationalspieler Philipp Lahm lässt sich sofort für ein schwules Lifestyle-Heft fotografieren. Wenn der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in der FAZ eine Todesanzeige für seinen verstorbenen Sohn schaltet, ist es ganz normal, die Lebensgefährtin seiner Tochter mit in die Zeile der Familienangehörigen zu setzen.

Die Homosexuellen sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Und das bedeutet auch: Sie inszenieren sich immer klassischer, legen Wert darauf, einfach nur die Nachbarn von nebenan zu sein. Der Stolz der Minderheit schwindet und macht Platz für ein neues, bürgerliches Selbstverständnis.

Aber nicht alle Schwulen fühlen sich damit richtig wohl. »Schwule als Vorreiter einer neuen Spießbürgerlichkeit, als Vorzeige-modell fürs brave Leben im Familienkreis?«, fragte vor Kurzem das Szenemagazin Hinnerk in einer Titelgeschichte und stellte fest: »Heute geht die Mehrheit der Schwulenszene weder in die Schwulenkneipe noch auf die Schwulendemo. Höchstens auf den CSD – wenn der Sekt gut gekühlt ist.«

In einer Designerwohnung am Hamburger Leinpfadkanal im feinen Stadtteil Harvestehude ist die friedliche Stimmung des Spätsommertags aus ähnlichen Gründen gerade empfindlich gestört. Hier lebt Peter Maßmann, als SPD-Lokalpolitiker Vorreiter für die sogenannte Hamburger Ehe, die ab 1999 die erste staatlich anerkannte Form des gleichgeschlechtlichen Zusammenlebens war, mit seinem Gatten Alexander Nebe.

Gerade ist Maßmann in Rage – er spricht darüber, dass er jahrelang für Gleichberechtigung kämpfen musste und heute ausgerechnet die CDU einen schwulen Bürgermeister stellt und immer mehr Schwule dort Parteimitglieder werden. Sehr hässliche, nicht druckbare Dinge hat er eben über diese aus seiner Sicht politisch verwirrte Gruppe gesagt. Nebe, von Beruf Redakteur bei der Zeitschrift Gala, kommt auf den Balkon und sagt grinsend: »Du redest dich wieder um Kopf und Kragen!«

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Hochzeitsgrüße von Gerhard Schröder)

Maßmann blickt zu seinem Ehemann auf. »Wenn man denen eine Pille anbieten würde, die heterosexuell macht, würden sie sie alle schlucken!« Dabei sind Maßmann und Nebe selbst ein ideales Exemplar der neuen schwulen Bürgerlichkeit. Nebe bringt ein großes gerahmtes Bild des Ex-Kanzlers. Darunter steht mit Füller geschrieben: »Für Peter und Alexander mit den besten Wünschen, Gerhard Schröder.« Maßmann sagt strahlend: »Explizit zur Hochzeit!«

Früher mal zogen sich Schwule in ihre Szene zurück, weil sie ihre Sexualität vor der Gesellschaft verbergen mussten. Auf Ablehnung und Ausgrenzung reagierten Homo-sexuelle, indem sie ihr Minderheitendasein betonten, indem sie feierten, dass sie eben anders sind als die Masse. Das offensichtlichste Beispiel: die positive Umdeutung des ursprünglich diffamierenden Begriffs »schwul«.

Aber je unproblematischer das Leben für Schwule in der Gesellschaft wurde, umso weniger dringend war irgendwann der eigene Wunsch nach Abgrenzung. Spätestens das Aufkommen des Modells »metrosexueller Mann«, das schwule Ästhetik und Attitüden für die gesamte Männerwelt adaptierte, war wohl das Aus für die Abgrenzung. Als man, zumindest in den Großstädten, plötzlich Schwule an ihren Machogesten und Heteros an ihrer gepflegten Haut und der Föhnfrisur erkannte, war die Verwirrung perfekt.

Inzwischen zupfen sich die härtesten Türkenprolls die Augenbrauen, die homosexuelle Subkultur aber ist in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen und hat sich dort ein bisschen selbst aus den Augen verloren. Wählt man die Telefonnummer des alten Filmemachers und Kämpfers der Schwulenbewegung Rosa von Praunheim, ist es, als würde man irgendwo in den Siebzigerjahren anrufen. Es knackt in der Leitung, blechern klingt die Stimme am anderen Ende.

Von Praunheim hat einmal den Satz gesagt: »Da die Schwulen vom Spießer als krank und minderwertig verachtet werden, versuchen sie noch spießiger zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen mit einem Übermaß an bürgerlichen Tugenden.« Heute stimmt zwar die Beobachtung mehr denn je, aber nicht mehr ihre Herleitung. Von Praunheim sagt am Telefon dazu: »Eigentlich äffen die schwulen Paare ja nur noch heterosexuelle Lebensformen nach.« Und dann fügt er bitter hinzu: »Aber es ist ja auch ihr gutes Recht, spießig zu sein. Daran, dass ›schwule Sau‹ in Kindergärten immer noch das gängige Schimpfwort ist, ändert das trotzdem nichts.«

Tatsächlich regt sich gegen die neue Normalität auch Widerstand. »Jugendliche mit muslimischem Hintergrund bereiten uns Sorgen«, sagt Alexander Nebe. Und auch die katholische Kirche bleibt hart. Vor Kurzem suspendierte der Bischof von Limburg einen Bezirksdekan, der die Segnung einer homosexuellen Beziehung durchgeführt hatte. Aber das ist bloß die offizielle Linie. Heimlich leben auch viele Geistliche ihre Neigungen aus. In München haben sich vor einiger Zeit zwei Theologen »verpartnert« (das ist der gewöhnungsbedürftige Begriff für den offiziellen Status einer homosexuellen Beziehung, die aber keine Ehe im juristischen Sinne ist); ihre Kirche weiß davon bis heute nichts. Und zu den CSD-Feiern gibt es regelmäßig ökumenische Gottesdienste.

Der dunkelhäutige US-Amerikaner André McNickel hat es geschafft, die Tradition seiner katholischen Familie mit seinem schwulen Lebensstil zu verbinden. Vor Kur-zem hat er in Berlin seinen Lebensgefährten Olaf Minkus geheiratet. Minkus sagt strahlend: »Ja, ich würde sagen, dass wir richtig spießig geworden sind, spießiger als die meisten Heteropaare – was ich aber nicht negativ sehe.« Die beiden wohnen in Berlin-Mitte mit Blick auf eine Kirche im neogotischen Stil. Minkus schwärmt von den Momenten, in denen die Klänge der Chorproben zu ihnen ins schicke Wohnzimmer herüberwehen. Er arbeitet in der Mode, sein Mann, McNickel-Minkus, ist Tänzer und Event-Veranstalter, eigentlich nicht sehr spießig.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Heiraten wie amerikanische Highschool-Prinzessinnen)

Dann allerdings wird das Album mit den Hochzeitsfotos herbeigeholt. Und da spricht nichts als Traditionsseligkeit aus den Bildern: der maskuline Minkus im schwarzen Anzug, der drahtige McNickel im weißen Maßanzug mit weißem Blumenstrauß. Die Torte ist so cremig und so groß, wie sie sich amerikanische Highschool-Prinzessinnen erträumen.

»Wichtig war uns der spirituelle Akt«, sagt Minkus. Der freie Theologe Dirk Battermann, selbst mit einem Mann verpartnert, hielt die Zeremonie. Der hedonistischen Schwulen-szene haben sie zwar nicht abgeschworen, aber die wilden Zeiten sind vorbei. »Es ist ganz klar, dass wir monogam leben.«

Deutschland liegt im internationalen Vergleich – was die Gleichstellung von Schwulen und Lesben anbelangt – im guten Mittelfeld. Aber es könnte noch vieles liberaler werden. Inzwischen hat sogar das erzkonservative Spanien die Partnerschaft der Ehe ganz gleichgestellt. Kinder adoptieren dürfen Schwule in Deutschland immer noch nicht ohne Weiteres. Und auch steuerlich sind homosexuelle Paare benachteiligt.

Dafür findet sich in anderen Fragen mittlerweile mehr biedere Normalität, als man sie sich je gewünscht hat. Gerade erst vermeldete ein Homo-Magazin freudig diese Nachricht: Der schwul-lesbische Karnevalsverein »Colonia Ahoj« ist als Mitglied Nummer 108 in das offizielle Festkomitee des Kölner Karnevals aufgenommen worden.

Fotos: Andreas Lux